Am Samstag, den 22. Februar, nach vier Jahren war der Traum nun zum Greifen nah. Simon transportierte das sorgfältig ausgewählte und ausschließlich für ihn am besten in Frage kommende Material an den Einstieg. Der angekündigte Wind mit Spitzen bis zu 80 km/h trübte Simons Zuversicht über das ansonsten verhältnismäßig mild vorausgesagte Wetter. Um sich einen besseren Überblick über die aktuellen Verhältnisse zu verschaffen und den starken Nordwestwind besser einschätzen zu können, stieg der LOWA-PRO-Team-Athlet ein paar Meter in die Wand ein. „Das Klettern fiel mir ziemlich leicht und mein Bauchgefühl sendete mir ein erstaunlich positives Feedback. Nun war mir klar, dass der Moment für das Soloprojekt gekommen war“, beschreibt der Alpinist den Beginn.
Am nächsten Morgen fiel dann der eigentliche Startschuss für die Solo-Tour. Mit jeder vergangenen Seillänge wurde der Traum für Simon zur Wirklichkeit: „Beinahe fühlte ich mich wie ein Musiker, der das ausgiebig geübte Stück nun endlich vor einer großen Kulisse präsentieren kann. Im Unterschied dazu befand ich mich weder in einem großen Konzertsaal, noch kletterte ich vor Publikum. Ganz alleine, an der eindrucksvollen Kante hangelnd, genoss ich insgeheim die Einsamkeit und den Bewegungsfluss, der sich scheinbar automatisiert hatte.“ Dabei hatte der erfahrene Alpinist stets die Gefahren seines Alleingangs im Hinterkopf. Fehler sind beim Klettern grundsätzlich gefährlich, aber alleine können sie noch gravierendere Auswirkungen nach sich ziehen. Dennoch ließ sich der erfahrene Alpinist nicht aus der Ruhe bringen und konzentrierte sich auf die Erfüllung seines Traums. Trotz des starken Nordwestwindes, der Simon im Vorfeld einiges an Kopfzerbrechen bereitet hatte, lief es gut und es ging zügiger voran als ursprünglich gedacht. Den höchsten Punkt der Westlichen Zinne erreichte er noch im Tageslicht. Um die hellen Stunden noch optimal zu nutzen, stieg er die ersten Meter der Dülferverschneidung bereits jetzt hoch und fixierte sein Kletterseil für den nächsten Tag. Danach seilte sich Simon zurück zum Biwakplatz ab und richtete sich für die Nacht ein – da entschied er, dass die Tour nun sogar mit nur einem Biwak anstatt wie ursprünglich geplant mit zwei Biwaks funktioniert.
Am Montagmorgen gegen 7.00 Uhr beendete Simon seine unruhige und windige Nachtruhe und startete mit leichtem Gepäck vom Biwakplatz in Richtung Großer Zinne. Bereits um 9.20 Uhr erreichte er den Gipfel im Sonnenschein und bei nachlassendem Wind.
Von hier blickte er auf den Weg, der noch vor ihm lag: Die Schlucht zwischen Großer und Kleiner Zinne, der Gipfel der Kleinen Zinne, der scharfe Grat zur Punta di Frida, der Abstieg von diesem Gipfel über die Nervenschlucht zum Preußturm. Eine erste und aufgrund des hohen Tempos notwendige Pause gönnte er sich am Wandfuß der Kleinen Zinne.
Mittags überschritt er den Gipfel der Kleinen Zinne, bestritt den Sattel zur Punta di Frida, um dann um exakt 14 Uhr auf dem letzten Gipfel – den des Preußturms – zu stehen.
Westliche Zinne (2.973 Meter), Große Zinne (2.999 Meter), Kleine Zinne (2.857 Meter), Punta di Frida (2.792 Meter) und Preußturm (2.700 Meter) – als erster Alpinist überhaupt traversierte der LOWA-PRO-Team-Athlet Simon Gietl die Gipfel der Drei Zinnen in dieser Reihenfolge im Alleingang und erfüllte sich damit einen langgehegten Traum.